Ältere Touristengrüppchen, mit Sonnenbrillen getarnt und Gesundheitssandalen bewaffnet, walzen durch die Straßen, auf der Suche nach dem nächsten Stück Sahnetorte im Cafehaus, um dort das „Flair“ der geistreichen Stadt zu kosten. Jugendgruppen schlurfen betont lässig und mit möglichst großem Abstand zu ihren Lehrern zu einer weiteren Führung, während sie demonstrativ ihre Langeweile zeigen. Spanier, Franzosen und Amerikaner flitzen fleißig von einem Ort zum nächsten, um so viel Kultur wie möglich in sich aufzusaugen. Und dazwischen die stillen, aufmerksamen Schlendernden, die mit wachsamen Augen durch die sonnigen Gassen laufen, bei den leicht zu übersehenden Details anhalten, die sich die kleinen Inschriften im Boden durchlesen und den Eindruck erwecken, als seien sie auf der Suche nach bestimmten Anhaltspunkten. Ist Schiller durch diese Straße gelaufen? Oder hat Goethe hier für seine Liebste ein paar Blumen gepflückt?

Mittendrin ich. Zwischen all den niedlichen, penibel gepflegten, säuberlich renovierten Häuschen – denn Häuser kann man zu diesen putzigen Gebäuden nun wirklich nicht sagen. Alle sehen aus wie frisch gestrichen, was sie vielleicht noch unechter für jemanden wirken lässt, der wie ich in seiner eigenen Stadt keine Altstadt besuchen kann. Ja, Berlin und Weimar sind schon zwei verschiedene Welten, und vielleicht ist es gerade dieses Unwirkliche, was Weimar für mich zu einem so eindrucksvollen Ort macht. Wie im Märchen würde man sich fühlen, wäre da nicht dieser allgegenwärtige Strom von Schaulustigen und Kulturbeflissenen, die einem das Träumen von vergangenen Zeiten schwer machen. Und genau deshalb widme ich meine Gedanken auch nicht dem Goethehaus, welches ohne die Spuren menschlichen Lebens noch mehr wie ein Museum aussieht. Wenn man sich vorstellt, welche Besucherheere über die Jahrzehnte durch dieses Haus gewandert sind und die letzten Atömchen von Goethes Atem aus den Vorhängen eingesogen haben, vergeht jegliche romantisch-sentimentale Anwandlung innerhalb von Sekunden. Und genau so kalt und leer sind die Museen, die jedes noch so kleine Detail in ihren Vitrinen wie in einem Schneewittchensarg verstauben lassen – würde nicht so genau darauf geachtet werden, dass alles blitzblank ist. Wie soll man auf den Spuren der Großen wandeln, indem man sich ihre Locken in einem Glasschaukasten ansieht? Und was verrät eine Wohnung über einen Menschen, der seit über zweihundert Jahren nicht mehr in ihr lebt?

Aber wenn man nachts im Park an der Ilm umherwandert, im Nebel und im schwachen Schein der Stadt, dann besteht kein Zweifel: Das ist echt. Der gleiche Weg, den die Poeten im 18. Jahrhundert entlang geschlendert sind. Der Wind, der Nebel, der Schauer, der einem über den Rücken läuft. Wie viel mehr Atmosphäre hat so ein Spaziergang als kalte Ausstellungen: Sicher ist es wichtig und interessant, die ach so berühmten Häuser zu besichtigen, und schön, endlich zu wissen, wo denn nun das eine oder andere Werk entstanden ist. Aber zeigt es einem das Flair dieses Ortes? Die Poesie dieser Kleinstadt, das Einzigartige? Nein. Und so richte ich meine Aufmerksamkeit auf das wirkliche Weimar, das, welches noch existiert und welches einen heute tatsächlich noch erahnen lässt, welche spezielle Ausstrahlung seinen Dichtern und Denkern geholfen hat, eindrucksvolle und einzigartige Werke zu verfassen.

GoetheSchillerGruppenbild

Als wir am Freitagnachmittag in Weimar ankommen, ist von Poesie noch nicht viel zu merken. Die Zimmer in der Jugendherberge sind noch nicht beziehbar, und so muss man das Einrichten und Duschen durch einen kleinen Stadtspaziergang ersetzen. Die Sonne lacht, als wäre es ihr letzter Tag, und hüllt die kleine Innenstadt in ein strahlendes Licht. Doch die ersten Anwandlungen von Poesie. Denke ich mir die Touristen weg, entsteht vor meinem inneren Auge das Bild eines sehr idyllischen Städtchens, das bestimmt zum Schreiben von zufriedenen, behaglichen, sommersatten Gedichten anregt. Wir schlendern durch ein kleines Seitengässchen am Bauhausmuseum vorbei und wagen einen Blick in den Vorhof des Wittumspalais; mein erster Gedanke ist, dass ich mir ein Palais nun wirklich ein bisschen anders vorgestellt habe. Ich weiß, ich sollte es besser wissen, aber da ist noch diese kindliche Vorstellung aus der Zeit, in der man noch gerne Prinzessin spielt und bei Schlössern, Palais und so weiter noch an Türmchen und Fähnchen denkt. Nun gut, zum Verweilen keine Zeit, und das Wittumspalais steht ja sowieso ganz oben auf dem Tagesprogramm.

Also weiter das Gässchen entlang, bis wir auf einen kleinen Springbrunnen stoßen. Keine Plakette, keine Jahreszahl: Wie alt dieser Springbrunnen wohl sein mag? Viel mehr als Schillers Locke, die wir am Montag noch in seinem Haus sehen werden, interessiert mich, ob hier vielleicht seine Kinder gespielt haben, ob an diesem Platz vielleicht einmal jemand verweilt hat, bis ihm die zündende Idee für ein neues Werk kam. Rätselhafter Brunnen ohne Namen, es wäre schön, wenn du sprechen könntest.

Da meine Mitspaziergänger mein Interesse an dem kleinen Brunnen nicht zu teilen scheinen, folge ich ihnen bis zur Herderkirche, wo ich mir eine Postkarte mit einem Ausschnitt aus dem Cranachaltar kaufe. Ehrlich gesagt muss ich zugeben, das gesamte Altarbild gefällt mir nicht sonderlich. Aber dieser Ausschnitt hat es mir angetan. Er zeigt eine kleine Erdbeerpflanze ganz am Bildrand. Ganz klein, ganz einfach. Und obwohl ich noch nie wirklich über die Symbolträchtigkeit einer Erdbeerpflanze nachgedacht habe, erscheint mir diese hier irgendwie anders, besonders und bedeutungsvoll. Liegt das an mir, der Stimmung der Kirche oder an Weimar? Die alte Dame, die mir das Papiertütchen mit der Karte überreicht, lächelt und flüstert mir zu – denn in der Kirche wird ja nicht laut geredet - , ich sei nicht die Erste, die so von der Karte fasziniert sei. Es kämen häufig Leute in die Kirche, die speziell nach diesem Motiv fragten. Die erste berühmte Erdbeere, die mir jemals über den Weg gelaufen ist. Das ist Weimar.

Auf dem Rückweg halten wir Ausschau nach einer Gelegenheit, unseren Durst zu löschen und dabei nicht ganz in den Dunstkreis touristischer Tortencafés zu kommen. Da steht an einer Straßenecke plötzlich ein Schild: „Caféladen“ besagt es und der Pfeil zeigt unmissverständlich in die kleine, leicht ansteigende Gasse. Erst noch das große Rätselraten: Handelt es sich nun um ein Café oder einen Laden?

  • Schillerhaus mit Schülern
  • Weima 079
  • Weimar112

Doch die Neugier siegt und wir entdecken einen wirklichen kleinen Schatz von Weimar. Der Caféladen stellt sich sowohl als das eine als auch das andere heraus, verkauft französische und österreichische Schokoladen in traumhaften Sorten und bietet Kaffee in allen Variationen an. Da wird von “Latte Macchiato mit Karamellcreme“ bis „Mandelmilchschaum auf Marzipan“ alles angeboten, was man sich in irgendeiner Form nur vorstellen kann. Und die heimliche Lage und die kleine sonnige Terrasse machen das Ganze noch schöner. Wäre ich ein Weimarer Schriftsteller, ich würde hier ganze Romane vollenden. Weimar wirkt in dieser kleinen Straße ganz anders, so normal. Man wird nicht mehr ständig von Goethe-Souvenirläden oder fotografierenden Touristen daran erinnert, dass dies eine besondere Stadt ist, und gerade das macht sie in diesem Augenblick besonders, besonders idyllisch und besonders poetisch.

Genau so poetisch, und diesmal sogar beinahe feierlich wird mir zumute, als ich in meiner freien Zeit der Bibliothek einen Besuch abstatte. Viele der Bücher halten sich im sogenannten Bücherkubus auf, doch mir eröffnet sich eine andere Welt, als ich eine Treppe in einem etwas entlegenen Winkel entdecke, die ganz offensichtlich nach unten führt. Sie ist nicht abgesperrt, und wäre sie das, wäre mir das vermutlich auch egal. Bibliotheken üben seit meiner Kindheit eine unglaubliche Faszination auf mich aus, und ich habe immer noch die etwas absurde Vorstellung, man könnte dort in geheimen Gängen vergessene Bücherschätze bergen. Also mache ich mich auf den langen Weg nach unten, und schließlich wird mir klar, dass ich mich unter dem Platz vor der Anna-Amalia-Bibliothek befinde, in dem Bücherlager, von dem uns die Stadtführerin erzählt hat. In diesem Moment ist es mir allerdings ziemlich egal, wo ich mich befinde, denn die überwältigende Menge alter Bücher verschlägt mir so ziemlich die Sprache. Ich schlängle mich zwischen den Regalen hindurch durch ein riesiges Bücherlabyrinth, voll von uralten Büchern, von denen ich noch nie gehört habe oder von denen ich nie gedacht hätte, dass es sie gibt. Eine Schatztruhe. Und sie scheint nie aufzuhören. In den großen, kahlen Räumen, die fast an einen Bunker erinnern, befindet sich außer mir keine Menschenseele. Die Zeit vergeht in Bibliotheken irgendwie anders. Langsamer. Doch was für mich wie eine zehnminütige Erkundungsreise gewirkt hat, hat in Wirklichkeit wesentlich länger gedauert, und so werde ich unsanft aus meinen Bücherfantasien zurück ins grelle Licht Weimars verfrachtet, um mir dort Goethes Haus am Frauenplan anzuschauen. Ich kann ihn verstehen, den Goethe. Einen Posten als Bibliothekar einer solchen Bibliothek hätte ich mir auch nicht entgehen lassen. Auch wenn sie zu seiner Zeit sicher nicht halb so groß war.

Was fehlt nun noch zur Entdeckung Weimars? Ein gutes Kaffeehaus ist für einen Schriftsteller unerlässlich, um seine Fantasie in Gang zu bringen, genau so wie ein Schatz geheimnisvoller Bücher. Doch wo lässt der Dichter seine Gedanken fliegen, wo fängt er seine Inspirationen mit dem Schmetterlingsnetz seiner Gedanken ein? Natürlich in der Natur (welch ein Wortspiel!). Und auch wir machten uns zu nachtschlafender Zeit auf, um den Park an der Ilm näher zu erforschen. In meinem ganzen Leben habe ich selten einen solch verwunschenen Park gesehen. Er ist wie verzaubert, und selbst wenn man weiß, dass all die römischen Statuen, die kleinen Grotten, die verschlungenen Wege oder die Parkhöhlen viel später angelegt wurden, als sie es einen glauben lassen, so wirkt der Park trotzdem wie aus einem Märchen entnommen. Und mitten in diesem verzauberten Park steht eine Schlossruine. Und genau zu dieser wollten wir, als wir um kurz nach elf an der Ilm entlang spazierten. Nun ja, spazieren klingt vielleicht etwas gemütlich für unseren Laufstil. Ich muss sagen, eine Nacht an der Ilm bei leichtem Nebel und ohne Straßenlaternen ist schon recht abenteuerlich. Ich musste unwillkürlich an den Erlkönig denken, und bei Nacht wirkte der Park einmal mehr wie ein verwunschener Schlosspark, in den sich allerlei Geister verirrt haben könnten. Nichts in Weimar erschien mir plötzlich authentischer als dieser nächtliche Parkspaziergang, denn egal wie viele Jahrzehnte zwischen Goethes und Schillers Aufenthalt und meinem gelegen haben mochten, bei Nacht und an diesem Ort schien diese Differenz wie weggeblasen. Was machte den Unterschied, ob ich im Jahre 2005 an der Ilm entlang wanderte, dem Wasser zuhörte und einen leisen Schauer von dem vernebelten Weg, der vor mir lag, bekam, oder Schiller im 18. Jahrhundert? Obwohl ich natürlich nicht weiß, ob er jemals nachts an der Ilm spazieren ging. Ich weiß nicht, ob es an dieser plötzlichen Einheit von Gegenwart und Vergangenheit lag, dass, als ich ein Foto von der Ruine machte, ein Vollmond auf dem Foto erschien, obwohl der Mond über uns hing und uns durch die Wolken nur sein halbes Gesicht entgegenstreckte. Aber es wäre eine schöne Erklärung!

Et voila, dies sind die Ereignisse, die mich in Weimar am meisten beeindruckt haben. Es mögen vielleicht die gewöhnlichen sein, aber ich wollte Weimar bei meinem Besuch als etwas anderes als ein großes, begehbares Museum sehen. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass ich eine Ahnung davon bekommen habe, was Weimar zur Zeit der Weimarer Klassik zu einem so berühmten und einzigartigen Ort gemacht hat. Aber ich habe auch gesehen, was Weimar heute noch so besonders macht und was man entdeckt, wenn man sich nicht von dem Touristenstrom leiten lässt, sondern ohne Stadtplan und –führer durch die Kleinstadt schlendert und sich einfach überraschen lässt, wo man ankommt.

A. S. L.

      

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